Ein Reaktor namens Kuh ....
Milchindustrie
Natur aus der Fabrik
Ein Reaktor namens Kuh erzeugt täglich sechzig Liter Milch. Bevor diese in den Handel kommt, wird sie zerlegt, gerüttelt und neu zusammengesetzt. Ein Blick hinter die Kulissen einer Hochleistungsindustrie
Solange DE 1300188124 nicht auf die Weide muss, geht es ihr blendend. Stellte man sie aber mitten in die Natur, fiele sie vermutlich ins Koma. Als moderne Hochleistungskuh verkraftet sie pflanzliche Rohkost nicht: Erst würde sie sich, immer hungrig, wie sie ist, und an 50.000 Kilokalorien pro Tag gewöhnt, den Pansen mit frischem Gras füllen. Die ungewohnte Diät bekäme ihr schlecht. Ihrem Hochleistungsorganismus – eingestellt auf stetigen Nachschub an Kraftfutter – reichten Löwenzahn, Klee und Pfeifengras bei Weitem nicht, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.
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Die Produktion des angeblichen Naturproduktes Milch hat heute ein Niveau erreicht, das unter natürlichen Bedingungen nicht aufrechtzuerhalten ist. Pro Kilogramm Körpergewicht verstoffwechseln Tiere der ersten deutschen Milchliga doppelt soviel wie ein Hochleistungssportler. Damit sie nicht ins Koma fallen, steht den Turbokühen 24 Stunden lang Kraftnahrung zur Verfügung
»Eine Kuh, die 50 Liter Milch gibt, kann man mit Gras nicht ausfüttern«, sagt Physiologe Hammon. Die Tiere auf Gut Dummerstorf, das gleich neben dem Forschungsinstitut liegt, kauen daher Mais- und Grassilage. Das Futter ist mit einem Mix aus Mineralstoffen und Vitaminen ergänzt. Weil sie erst kürzlich gekalbt hat, gehört DE 1300188124 zur Gruppe der Kühe, die vom selbst fahrenden Futtermischwagen die Spezialration erhalten. »Da sind noch 1,4 Kilogramm Eiweiß und 300 Gramm pansengeschützte Fette pro Tier und Tag drin«, sagt Andreas Heklau, ihr Herdenmanager. Und wie jeder moderne Ausdauerathlet bekommt sie einen »Energieriegel« – eine Extraportion schnell verfügbare Zucker (Melasse oder Dextrose).
Wenn die 445 Dummerstorfer Produzentinnen nicht fressen, gehen sie im Stall umher oder legen sich in die Ruhekuhlen zum Wiederkäuen, während dahinter der automatische Kotschieber seine Runden dreht. Sie verbringen ihr ganzes Leben unter Dach und Fach, periodisch eingeteilt in die Besamungsgruppe, in die Abteilung für Färsen oder Euterkranke, bei den Trächtigen oder Hochleistern, Altmelkern oder Trockengestellten. An Arbeitstagen liefern sie ihre Leistung im Schichtbetrieb ab – alle acht Stunden drängt sie der automatische Treiber zum Fischgrätenmelkstand. Währenddessen entgeht Pedometer und Datentransponder kein Schritt. Und das Computerprogramm Superkuh analysiert permanent Leistung, Appetit und Wohlbefinden aller Schützlinge.
DE 1300188124 genießt ein Privileg: Sie heißt manchmal auch Christina. Einen Namen erhalten auf dem Gut Dummerstorf nur Tiere, die als Ausstellungsobjekt auf eine Messe fahren oder in ihrem Leben mindestens 100 Tonnen Milch produziert haben. Vor Christina haben Neike und Marga diese Menge geschafft. In der Geschäftsstelle des Hofs hängen Zinnteller mit den Namen der drei Honorierten an der Wand. Während das Leben von Neike und Marga längst in einer Schlachterei zu Ende gegangen ist, leistet Christina, die achtfache Mutter, noch immer ihren Dienst. Sie ist jetzt bei 105 Tonnen angelangt. Am 5. Februar wird sie zwölf Jahre alt. Eine Ausnahme in dieser Leistungskategorie. Im Schnitt macht es eine Holsteinerin hier keine fünf Jahre. In dieser Zeit ist sie im Mittel zweieinhalb Mal trächtig, das entspricht zweieinhalb Laktationsperioden (Bundesdurchschnitt: 2,8). Das bedeutet, dass eine Kuh nur 750 Tage lang gemolken wird. Christina blickt auf weit über 2000 Arbeitstage zurück.
.....Ist aber das Produkt aus dem Euter einer Industriekuh identisch mit der Milch einer grasenden Kuh? Fettmenge und Eiweißgehalt sind gleich. Die Qualität der Fette aber ist sehr unterschiedlich. ...
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...Die Lebensspanne
Das kurze Leben ihrer Hochleistungskühe sorgt neuerdings bei Züchtern für ein Umdenken. Der hohe Verschleiß drückt die Rendite. Das neue Ziel, sagt Wissenschaftler Hammon, heiße »Lebensleistung erhöhen«. Eine Kuh kostet die Betriebe 2000 Euro, bis sie erstmals Milch gibt. Schafft sie keine drei Laktationsperioden, rentiert sich das nicht – vor allem nicht bei fallenden Milchpreisen.
....Bevor die Kuh in eine Hochleistungsmaschine verwandelt wurde, war Milch etwas anderes. Und sie wurde anders behandelt. Bauernfamilien tranken sie gern kuhwarm, direkt nach dem Melken. Wer sich seine Milch direkt vom Bauern holte, merkte am Geschmack, ob die Tiere im Stall oder auf der Weide gestanden hatten. Ließ man ein Schälchen Milch in der Küche stehen, setzte sich fetter Rahm ab, den Kinder gern naschten (als es noch keine Milchschnitten gab). Später wurde leckere Dickmilch daraus. Solche Milch gibt es heute nur noch selten, auf Bergalmen oder in manchen Biobetrieben.
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Heute wird die Milch gerüttelt und geschüttelt, geschleudert und gepumpt: von der Melkanlage in den Tank neben dem Kuhstall, dort vom Rührwerk in Bewegung gehalten, dann durch eine Pumpe in den Tankwagen, beim Transport gerührt und schließlich durch eine Pumpe in die Kühltanks der Molkerei.
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In der Molkerei wird die Milch in ihre Bestandteile zerlegt und neu zusammengebaut. Eine Zentrifuge trennt Magermilch und Rahm voneinander, die aber gleich darauf vereinigt werden, nach Fettstufe dosiert. So entstehen die standardisierten Produkte – Vollmilch, teilentrahmte oder fettarme Trinkmilch –, ganz gleich, wie fettreich die Milch war, die die Bauern geliefert haben. Soll die Milch homogenisiert werden, wird sie erwärmt und mit großem Druck durch eine kleine Öffnung gepresst. Dabei werden die Fettkügelchen so zerkleinert, dass sie nicht mehr an die Oberfläche aufsteigen können.
Die »Längerfrische«
In den Molkereien herrscht spätestens seit den dreißiger Jahren Pasteurisierungszwang, ursprünglich eingeführt, um die Infektion mit Tuberkulose zu verhindern. Nahezu alle Keime werden dabei abgetötet, Krankheitserreger ebenso wie nützliche Milchsäurebakterien. Klassische Frischmilch wird für maximal 30 Sekunden auf 72 bis 74 Grad erhitzt, die H-Milch für ein bis zwei Sekunden auf mehr als 140 Grad. Die mit dem irritierenden Kunstwort »längerfrisch« bezeichnete ESL-Milch (siehe nebenstehenden Artikel) liegt dazwischen: Sie wird höher erhitzt als die Frischmilch, aber weniger heiß als die H-Milch. Beim Erhitzen denaturieren die Eiweiße in der Milch, daher schmeckt sie ein wenig anders als frische.
Das Bundeslandwirtschaftsministerium berät zurzeit mit dem Lebensmittelhandel und den Molkereien über eine klare Kennzeichnung. Gesundheitlich bedenklich ist die ESL-Milch nicht. Doch wenn man ihre lange Haltbarkeitszeit ausnutzt, enthält sie nur noch sehr wenige Vitamine.
Es gibt aber auch mechanische Verfahren, um Milch länger haltbar zu machen. Die Upländer Bauernmolkerei setzt auf Tiefenfiltration: Sie lässt ihre Milch bei 55 Grad über einen Filter laufen, der wie eine Rolle Küchenpapier aufgebaut ist. Die Keime bleiben an den synthetischen Stoffen hängen, während die Milch hindurchfließt. »So konnten wir ein bis zwei Tage Haltbarkeit gewinnen, ohne die Milch einer höheren Temperatur auszusetzen.«
Zurück zur Natur
Was heißt das nun für die Konsumenten? Zunächst einmal: Rückstände wie Antibiotika oder Umweltgifte wie Dioxin werden viel weniger gefunden als noch vor zehn Jahren, sagt Hans Tober vom Laborzentrum MUVA Kempten. Auf die Frage, welche Milch die gesündeste ist, gibt es keine einfache Antwort: Klar ist, je länger die Milch transportiert und gekühlt wird und je höher sie erhitzt wird, desto mehr verliert sie an Vitaminen. Forscher halten diese Verluste nicht für bedenklich. Milchtrinker und -verarbeiter sind hingegen in zwei Lager gespalten: in Rohmilchfans und Technologen wie den Geschäftsführer des Milchindustrieverbands MIV, Eberhard Hetzner. Der sagt: »Das Schöne an der Milch ist, man kann sie problemlos zerlegen und wieder zusammensetzen.« Biobauern und Naturkostfans sind solche Sätze ein Graus. Für sie ist Rohmilch lebendig, H-Milch tot.
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